Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848
von Theodor Fontane (30. Dezember 1819 - 20. September 1898)
Hintergrund:
Poetischer Realismus hat nicht das Ziel, blosse Wiedergabe der Wirklichkeit darzustellen, sondern nimmt die Wirklichkeit als Objekt auf, die der Dichter mit poetischer Absicht dem Leser anbietet.
Text:
[...]Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergebenalltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, dass es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, dass man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte [...].
Wenn wir in Vorstehendem ... uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus nicht ist, so geben wir nunmehr unsere Absicht über das, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab: Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst, er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine »Interessenvertretung« auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste, den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist, den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese, er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene - vier Dinge, mit denen wir glauben, eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben.