Die Leiden des jungen Werther

von Johann Wolfgang von Goethe


Hintergrund:

Als Roman in der Form von Briefen (von Werther an seinen Freund Wilhelm) wirkt Goethes Die Leiden des jungen Werther sehr persönlich und nah. In beiden zitierten Briefen wird die Natur als Spiegel des inneren Zustands benutzt. Werther ist ein sensibler Künstler, der am Ende Selbstmord begeht. Der erste Ausschnitt stammt aus einem Brief vor der Begegnung mit Lotte, die er unerwidert liebt; der zweite Ausschnitt stammt aus Werthers Abschiedsbrief.

 


Am 10. Mai.

Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein, und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die für solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen unergründlichen Gestalten der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält; mein Freund! wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! -Mein Freund - Aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.

 

Am 12. Dezember.

Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geiste umhergetrieben. Manchmal ergreift mich’s; es ist nicht Angst, nicht Begier - es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit. Gestern abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach elf rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! Ach mit offenen Armenstand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, mein Leiden da hinabzustürmen! dahinzubrausen wie die Wellen! Oh! - und den Fuß vom Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden!

 


das Leiden – suffering, affliction

unerwidert – unanswered, unreturned

die Heiterkeit – cheeriness, exhilaration, serenity

genießen – enjoy

die Finsternis– darkness

einzeln – individual

merkwürdig– curious

unzählig – endless, countless

die Erscheinungen – phenomena

ergreift – catch

Wehe – woe, pain

schweife – ramble

geschwollen – billowed, swollen

wirbeln – spin

einhauchen – breath into

eingenommen (einnehmen) – occupied; overtaken

undurchdringlich - impenitrable

der Bach - brook, creek

mannigfaltig - diverse

einhauchen – to inspire; to revive

das Wimmeln - to teem; be alive with; swarming

der Halm, die Halme – blade (of grass) or stem

unergründlich - unfathomable

die Würmchen – [diminutive] – worms

die Mückchen – [diminutive] – (die Mücke, die Mücke) – mosquitoes

das Gräschen – [diminutive] – grass seedlings

die Wonne – delight, blissfulness

dämmern – to dawn

erliegen – to succumb to, or be consumed by sth.

die Begier – desire

das Toben – rant, riot, clamor

die Gurgel – throat

zupreßt (pressen) – constrict

das Tauwetter – thaw

der Qual, die Qualen – torments

wühlende – nuzzling

Äcker – fields

Wiesen – meadows

die Hecke, die Hecken – hedges

das Sausen – sough, blow hard

der Abgrund – the brink

überschwemmt – innundated