Willkommen und Abschied (Mir schlug das Herz)

von Johann Wolfgang von Goethe

 


Hintergrund:

 

Ende März 1770: Abreise nach Straßburg. Im September juristisches Vorexamen. Im Oktober erster Besuch im elsässischen Sesenheim, wo er Friederike Brion kennenlernt. Bekanntschaft mit Herder, der ihm Homer, Shakespeare, Ossian und die Volkspoesie nahebringt.

Mai bis Juni 1771: in Sesenheim. Es entstehen Gedichte an Friederike Brion. Dieses Gedicht gilt als eines der berühmten der deutschen Lyrik überhaupt und wird immer wieder als Muster für Goethes Sesenheimer Dichtung herangezogen. Der jugendliche Schwung, die Leidenschaft und Frische des Gedichts finden uneingeschränkte Bewunderung.

Das Gedicht gilt auch als die historische Signatur des Übergangs, der Ablösung und des Neubeginns. Es stammt aus einer Phase des Experiments und weist keineswegs die Glätte und Einstimmigkeit des vollkommenen Kunstwerks auf.  

 


Text:

 

Willkommen und Abschied

 

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!

Es war getan fast eh gedacht.

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hing die Nacht;

Schon stand im Nebelkleid die Eiche,

Ein aufgetürmter Riese, da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel

Sah kläglich aus dem Duft hervor,

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr;

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,

Doch frisch und fröhlich war mein Mut:

In meinen Adern welches Feuer!

In meinem Herzen welche Glut!

 

Dich sah ich, und die milde Freude

Floß von dem süßen Blick auf mich;

Ganz war mein Herz an deiner Seite

Und jeder Atemzug für dich.

Ein rosenfarbnes Frühlingswetter

Umgab das liebliche Gesicht,

Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!

Ich hofft es, ich verdient es nicht!

 

Doch ach, schon mit der Morgensonne

Verengt der Abschied mir das Herz:

In deinen Küssen welche Wonne!

In deinem Auge welcher Schmerz!

Ich ging, du standst und sahst zur Erden,

Und sahst mir nach mit nassem Blick:

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!

Und lieben, Götter, welch ein Glück!

 


Mir schlug das Herz

 

Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde,

Und fort, wild, wie ein Held zur Schlacht!

Der Abend wiegte schon die Erde,

Und an den Bergen hieng die Nacht;

Schon stund im Nebelkleid die Eiche, 5

Ein aufgethürmter Riese, da,

Wo Finsterniß aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.

 

Der Mond von seinem Wolkenhügel,

Schien kläglich aus dem Duft hervor; 10

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr;

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer -

Doch tausendfacher war mein Muth;

Mein Geist war ein verzehrend Feuer, 15

Mein ganzes Herz zerfloß in Gluth.

 

Ich sah dich, und die milde Freude

Floß aus dem süßen Blick auf mich.

Ganz war mein Herz an deiner Seite,

Und ieder Athemzug für dich. 20

Ein rosenfarbes Frühlings Wetter

Lag auf dem lieblichen Gesicht.

Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!

Ich hoft' es, ich verdient' es nicht.

 

Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! 25

Aus deinen Blicken sprach dein Herz.

In deinen Küßen, welche Liebe,

O welche Wonne, welcher Schmerz!

Du giengst, ich stund, und sah zur Erden,

Und sah dir nach mit naßem Blick; 30

Und doch, welch Glück! geliebt zu werden,

Und lieben, Götter, welch ein Glück!

 


Zweiter Text nach: Iris. Des Zweyten Bandes drittes Stück. Düsseldorf, März 1775. S. 244 f. [Erstdruck. - Diese Druckfassung geht auf eine Abschrift des Gedichts zurück, die von Johanna Fahlmer, einer Tante der Jacobis und Frankfurter Bekannten Goethes, stammt. Sie wird im Nachlaß von Johann Georg Jacobi in der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. aufbewahrt.]


elässisch - Alsatian

das Muster - model

der Schwung - zest, swing

die Leidenschaft - passion

uneingeschränkt - absolute, total

die Bewunderung - admiration

der Übergang - transition

aufweisen - to show

die Glätte - smoothness

die Einstimmigkeit - unanimity

der Abschied - parting, farewell

wiegen - rock, shake

die Eiche - oak

auftürmen - to pile up

die Finsternis - darkness

das Gesträuch - bushes

kläglich - pitiful, miserable

schauerlich - horribly

die Ader - vein

die Glut - burning ash, embers

die Zährtlichkeit - affection, tenderness

die Wonne - bliss

verzehren - consume

trüb - grim, bleak

bedrängt - tormenting

das Nebelkleid - veil of mist

schwang (schwingen) - swing

umsausen - to rush by

verengt - narrow

stund (stehen - old form; now: stand) - to stand

schlacht - battle