Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen

von Johann Christoph Gottsched (1700-1766)

verröffentlichte seine ,Dichtkunst' 1730; Neuauflagen folgten 1737-53.

 


Hintergrund:

Gottsched wollte eine umfassende Sprach- und Literaturreform im Geist des Rationalismus nach dem Vorbild der französischen Klassik mit ihren Idealen der Klarheit und Formenreinheit. Phantasie kann daher eigentlich schlecht sein.

Die Regeln für die Tragödie stützten sich auf die Autorität des Aristoteles, dessen angebliche Forderung der "drei Einheiten" von Handlung, Zeit und Ort von Gottsched beschrieben werden.

 


Text:

 

Erster Teil.

Das II. Hauptstück: Vom Charactere eines Poeten (1)

§ 17 So notwendig nun einem Poeten die Philosophie ist: so stark muß auch seine Beurteilungskraft sein. Es würde nichts helfen, witzig (2) und scharfsinnig zu sein, wenn der Witz übel angebracht würde, oder gar nicht rechter Art wäre. Eine gar zu hitzige Einbildungskraft macht unsinnige Dichter: dafern das Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßigt wird. Nicht alle Einfälle sind gleich schön, gleich wohlgegründet, gleich natürlich und wahrscheinlich. Das Urteil des Verstandes muß Richter darüber sein. Es wird nirgends leichter ausgeschweift, als in der Poesie (3). Wer seinen regellosen Trieben den Zügel schießen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton (4). Er hat wilde Pferde zu regieren; aber sehr wenig Verstand und Kräfte sie zu bändigen, und auf der rechten Bahn zu halten.[...]

Das X. Hauptstück: Von Tragödien (5), oder Trauerspielen (6)

§ 15 Die ganze Fabel (7) hat nur eine Hauptabsicht: nämlich einen moralischen Satz: also muß sie auch nur eine Haupthandlung haben, um derentwegen alles übrige vorgeht. Die Nebenhandlungen aber, die zur Ausführung der Haupthandlung gehören, können gar wohl andere moralische Wahrheiten in sich schließen. [...]

§ 16 Die Einheit der Zeit (8) ist das andere, das in der Tragödie unentbehrlich ist. Die Fabel eines Heldengedichtes (9) kann viele Monate dauern, wie oben gewiesen worden; das macht, sie wird nur gelesen: aber die Fabel eines Schauspielers, das mit lebendigen Personen in etlichen Stunden wirklich vorgestellt wird, kann nur einen Umlauf der Sonne, wie Aristoteles (10) spricht; das ist einen Tag, dauern. [...]

§ 18 Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Ortes (11). Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen: folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern. [...]

 


(1) Bezeichnung für Dichter alter literarischen Gattungen.

(2) Noch allgemein in der Bedeutung "klug, vernünftig, kenntnisreich": entsprechend wird "Witz" verwendet.

(3) Literatur allgemein

(4) Gestalt der griechischen Mythologie; der Sohn des Sonnengottes Helios konnte das Pferdegespann, das er geliehen hatte, um damit die Sonne über die Himmelsbahn zu ziehen, nicht zügeln und wurde von Zeus durch einen Blitz getötet.

(5) Hauptgattung des klassischen Dramas. griechisch "tragodia" = Gesang um den Bock (als Preis oder Opfer).

(6) Seit dem 17. Jahrhundert verwendeter deutscher Ersatzbegriff für Tragödie.

(7) Hier nicht die epische Kleinform, sondern die Grundzüge einer Handlung.

(8) Der Zeitraum, den das Bühnengeschehen umfasst: im Idealfall einer "Einheit der Zeit" entsprechen sich der Zeitumfang des Bühengeschehens und die zu seiner Darstellung benötigte Zeit.

(9) Hier allgemein ein umfangreiches episches Werk.

(10) Aristoteles (384 - 322 vor Christus), Verfasser der Poetik ("Peri poietekes" = Über die Dichtkunst). Das sogenannte aristotelische Drama ist durch die "drei Einheiten von Handlung, Zeit und Ort" gekennzeichnet.

(11) Schauplatz des Bühengeschehens

 


Critisch (= kritisch) = critical

vor (= für) = for

umfassend = comprehensive

das Vorbild = example

angeblich = alleged

die Forderung = demand

die Beurteilungskraft = power of judgement

übel = poor

dafern = because

der Einfall, die Einfälle = thought, idea

ausgeschweift (ausschweifen) = out of hand (to run riot)

gemäßigt (mäßigen) = measured (control)

den Zügel schießen läßt = let the reins fly, lose control

der Satz = statement, point, moral

derentwegen = because of it (hier: wegen der Haupthandlung)

unentbehrlich = indispensible

etlich = several

die Einheit oder Einigkeit = unity, singularity

übersehen = to observe (not "overlook")

der Umlauf der Sonne = rotation of the sun

die Bezeichnung = term

verwendet = used

umfangreich = large