Der Untertan
Heinrich Mann (27. März 1871 - 12. März 1950)
Hintergrund:
Heinrich Mann ist nicht primär ein expressionistischer Autor, aber seine Romane haben solche Elemente wie Ironie, Reduzierung des Menschen zum blossen Objekt, und die Darstellung des Peinlichen und Hässlichen, und Benutzung von erlebter Rede; seine Haltung der Macht gegenüber war auch sehr kritisch. Seine Kritik des deutschen Hanges zur unbedachten Unterwerfung, zum blinden Gehorsam war konstant und tiefsinnig.
Text:
[....] "Hurra!" schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stosses von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fussspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen, in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere (1) äussersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen (2), als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganization und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe! [...] Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fühlten wie Diederich. Eine Schutzmannskette war zu schwach gegen so viel Gefühl; man durchbrach sie. Drüben stand eine zweite. Man musste abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reiterweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefährlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich riss den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in die Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tümpel sah ihm nach, den Mund noch offen.
(1) Übergang in die erlebte Rede! (Dritte Person wird dadurch gesteigert und der Leser erfährt einen inneren Monolog.)
(2) Neuteutonen - Mitglieder der Verbindung Neuteutonia, der Diederich angehört
der Untertan - subject (of the realm)
Tümpel - pool, puddle
der Stoß batch
steinern to be like stone
der Einmarsch invasion
die Unterwerfung repression, subjugation, submission, subservience
unerbittlich adamant
durchbruch breakthrough, penetration
abbiegen to bend off
der Durchschlupf way through
abreißen to pull off
anheilen to heal
der Begleiter accompanist, attendant, escort