Briefe, die neueste Literatur betreffend

von Gotthold Ephraim Lessing (1728 - 1781)

 


Hintergrund:

Lessing verfaßte die Wochenschrift Briefe, die neueste Literatur betreffend gemeinsam mit dem Verleger und Schriftsteller Friedrich Nicolai so wie dem Philosophen Moses Mendelssohn (1756 - 1765). Sie enthält Rezensionen in Form von Briefen an den Dichter Ewald von Kleist.

Der 17. Literaturbrief enthält eine starke Kritik an Gottscheds Versuch, die deutsche Literatur und insbesondere das Drama auf das französische Vorbild zu verpflichten.

Gegen Nachahmung und Bindung an feste Regeln führt Lessing den "Geniebegriff" ein; dieser Begriff geht letztlich auf die Entdeckung der persönlichen Individualität und die Wertschätzung der Orginalität im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus zurück.


Text:  

 

Siebzehnter Brief, den 16. Februar 1759

"Niemand", sagen die Verfasser der Bibliothek (1), "wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen grossen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe."

Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, da sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.

[...]kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines Französirenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französirende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht.

Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare (2), mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß, es würde von bessern Folgen gewesen sein, als da man sie mit dem Corneille und Racine (3) so bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an jenem weit mehr Geschmack gefunden haben, als es an diesen nicht finden kann; und zweitens würde jener ganz andere Köpfe unter uns erweckt haben, als man von diesen zu rühmen weiß.

Denn ein Genie (4) kann nur von einem Genie entzündet werden; und am leichtesten von so einem, das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheint, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschreckt. [...]

 


(1) Zeitschrift Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste (1756 - 1806), gegründet von Friedrich Nicolal.

(2) William Shakespeare (1564 - 1616), seine Werke wurden in Deutsehland seit etwa 1650 durch die englischen Komödianten bekannt, um 1740 setzten die Bemühungen um original getreue Übersetzungen ein.

(3) Pierre Corneille (1606 - 1684) und Jean Racine (1639 - 1699) waren Hauptvertreter des klassischen französischen Dramas.

(4) Seit dem 18. Jahrhundert Bezeichnung für schöpferische Originalität und für den Menschen, der diese Eigenschaft besitzt.

 


leugnen = deny

vermengt (vermengen) = get involved in

Französirenden = frenchified (Lessing made up this verb! Funny!)

Denkungsart = manner of thought

Geschmack = taste, judgement