Muß immer der Morgen wiederkommen? und

Sehnsucht nach dem Tode

aus Hymnen an die Nacht

von Novalis (2. Mai 1772 - 25. März 1801) [eigentlich: (Georg) Friedrich (Philipp) Freiherr von Hardenberg]


Hintergrund:

Novalis erlebte eine unglaublich tiefe Erschütterung mit dem frühen Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn (1783 geboren; am 19. März 1797 gestorben), mit der er sich am 15. März 1795 verlobt hatte. Ihr früher und qualvoller Tod prägte Novalis stark. Der persönliche Schmerz findet seinen poetischen Ausdruck in diesen sechs Hymnen.


Text:

2. Hymne - Muß immer der Morgen wiederkommen?

 

Muß immer der Morgen wiederkommen?

Endet nie des Irrdischen Gewalt?

Unselige Geschäftigkeit verzehrt

Den himmlischen Anflug der Nacht?

Wird nie der Liebe geheimes Opfer

Ewig brennen?

Zugemessen ward

Dem Lichte Seine Zeit

Und dem Wachen –

Aber zeitlos ist der Nacht Herrschaft,

Ewig ist die Dauer des Schlafs.

Heiliger Schlaf!

Beglücke zu selten nicht

Der Nacht Geweihte –

In diesem irrdischen Tagwerck.

Nur die Thoren verkennen dich

Und wissen von keinem Schlafe

Als den Schatten

Den du mitleidig auf uns wirfst

In jener Dämmrung

Der wahrhaben Nacht.

Sie fühlen dich nicht

In der goldnen Flut der Trauben

In des Mandelbaums

Wunderöl

Und dem braunen Safte des Mohns.

Sie wissen nicht

Daß du es bist

Der des zarten Mädchens

Busen umschwebt

Und zum Himmel den Schoß macht –

Ahnden nicht

Daß aus alten Geschichten

Du himmelöffnend entgegentrittst

Und den Schlüssel trägst

Zu den Wohnungen der Seligen,

Unendlicher Geheimnisse

Schweigender Bote.

 


6. Hymne - Sehnsucht nach dem Tode (Hinunter in der Erde Schoß)

 

Hinunter in der Erde Schoß,

Weg aus des Lichtes Reichen,

Der Schmerzen Wut und wilder Stoß

Ist froher Abfahrt Zeichen.

Wir kommen in dem engen Kahn

Geschwind am Himmelsufer an.

 

Gelobt sei uns die ew'ge Nacht,

Gelobt der ew'ge Schlummer.

Wohl hat der Tag uns warm gemacht

Und welk der lange Kummer.

Die Lust der Fremde ging uns aus,

Zum Vater wollen wir nach Haus.

 

Was sollen wir auf dieser Welt

Mit unsrer Lieb und Treue.

Das Alte wird hintangestellt,

Was soll uns dann das Neue.

Oh! einsam steht und tiefbetrübt,

Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt.

 

Die Vorzeit, wo die Sinne licht

In hohen Flammen brannten,

Des Vaters Hand und Angesicht

Die Menschen noch erkannten,

Und hohen Sinns, einfältiglich

Noch mancher seinem Urbild glich.

 

Die Vorzeit, wo noch blütenreich

Uralte Stämme prangten

Und Kinder für das Himmelreich

Nach Qual und Tod verlangten.

Und wenn auch Lust und Leben sprach,

Doch manches Herz für Liebe brach.

 

Die Vorzeit, wo in Jugendglut

Gott selbst sich kundgegeben

Und frühem Tod in Liebesmut

Geweiht sein süßes Leben.

Und Angst und Schmerz nicht von sich trieb,

Damit er uns nur teuer blieb.

 

Mit banger Sehnsucht sehn wir sie

In dunkle Nacht gehüllet,

In dieser Zeitlichkeit wird nie

Der heiße Durst gestillet.

Wir müssen nach der Heimat gehn,

Um diese heil'ge Zeit zu sehn.

 

Was hält noch unsre Rückkehr auf,

Die Liebsten ruhn schon lange.

Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf,

Nun wird uns weh und bange.

Zu suchen haben wir nichts mehr -

Das Herz ist satt - die Welt ist leer.

 

Unendlich und geheimnisvoll

Durchströmt uns süßer Schauer -

Mir deucht, aus tiefen Fernen scholl

Ein Echo unsrer Trauer.

Die Lieben sehnen sich wohl auch

Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.

 

Hinunter zu der süßen Braut,

Zu Jesus, dem Geliebten -

Getrost, die Abenddämmrung graut

Den Liebenden, Betrübten.

Ein Traum bricht unsre Banden los

Und senkt uns in des Vaters Schoß.


die Erschütterung – shock

qualvoll – agonizing, distressful

unselig – unholy

die Geschäftigkeit – activity

verzehren – to consume

der Anflug – visit, approach

geheim – secret

das Opfer – sacrifice

zumessen – to attach

zeitlos – timeless

beglücken – to gladden

geweiht – sanctified

verkennen – to misjudge

irrdischen – earthly

Thor (=Tor) – fool

Nur die Thoren verkennen dich – fools alone mistake you

mitleidig – pitiful

die Dämmrung – twilight

die Trauben – grapes

der Mandelbaums – almond tree

das Wunderöl – magic oil

der Mohn – poppy (seed)

zart – tender

der Schoß – lap

ahnden – to avenge

unendlich - infinite

Geheimnisse – secrets

schweigender – silent

Bote – messenger

 


der Schoss – womb

der Kahn – boat, barge (here: a coffin, which is a "ship" to bring one to the other side...)

der Schlummer – slumber

tiefbetrübt – deeply grieved

einfältiglich – simply

die Sehnsucht – yearning

gehüllet (hüllen) – hold, cover, wrap

der Lebenslauf – path of life

der Hauch – breath, breeze

reichen – to reach

der Stoss – thrust

die Himmelsufer – the shore of heaven

welk – wither, fade

hintangestellt – to put last

fromm – pious

das Angesicht – face

das Urbild – prototype

prangen – to be resplendent

kundgeben – to make known

bange – anxious

deuchten – to seem to one

der Schall – sound