Tonio Kröger

von Thomas Mann (6. Juni 1875 - 12. August 1955)


Hintergrund:

Mann beschreibt einen Weg zur Überwindung der Trennung zwischen Kunst und Leben, die von vielen Künstlern (George, Rilke) idealisiert wurde. Künstlerdasein ist ein ständiges Thema bei Thomas Mann, der auch ein guter Bürger sein wollte.

Cesare Borgia war das Vorbild für Niccolò Machiavellis politisches Hauptwerk Il Principe und wird hier benutzt, um diese Verherrlichung einer ungewöhnlichen Persönlichkeit als falsch zu entlarven.


Text:

Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt. [...] Sagen Sie nichts von "Beruf", Lisaweta Iwanovna! Die Literatur ist überhaupt kein Beruf, sondern ein Fluch, - damit Sie's wissen. Wann beginnt er fühlbar zu werden, dieser Fluch? Früh, schrecklich früh. [...] Sie fangen an, sich gezeichnet, sich in einem rätselhaften Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen zu fühlen, der Abgrund von Ironie, Unglaube, Opposition, Erkenntnis, Gefühl, der Sie von den Menschen trennt, klafft tiefer unf tiefer, Sie sind einsam, und fortan gibt es keine Verständigung mehr. Was für ein Schicksal!

[...]

Ich bin am Ziel, Lisaweta. Hören Sie mich an. Ich liebe das Leben, - dies ist ein Geständnis. Nehmen Sie es und bewahren Sie es, - ich habe es noch keinem gemacht. Man hat gesagt, man hat es sogar geschrieben und drucken lassen, dass ich das Leben hasse oder fürchte oder verachte oder verabscheue. Ich habe dies gern gehört, es hat mich geschmeichelt; aber darum ist es nicht weniger falsch. Ich liebe das Leben ... Sie lächeln, Lisawetz, und ich weiss, worüber. Aber ich beschwöre Sie, halten Sie es nicht für Literatur, was ich da sage! Denken Sie nicht an Cesare Borgia oder an irgendeine trunkene Philosophie, die ihn auf den Schild erhebt! Er ist mir nichts, dieser Cesare Borgia, ich halte nicht das geringste auf ihn, und werde nie und nimmer begreifen, wie man das Ausserordentliche und Dämonische als Ideal verehren mag. Nein, das "Leben", wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegenübersteht, - nicht als eine Vision von blütiger Grösse und wilder Schönheit, nicht als das Ungewöhnliche stellt es uns Ungewöhnlichen sich dar; sondern das Normale, Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität! Der ist noch lange kein Künstler, meine Liebe, dessen letzte und tiefste Schwärmerei das Raffinierte, Exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, nach ein wenig Freundschaft, Hingebung, Vertraulichkeit und menschlichem Glück, - die verstohlene und zehrende Sehsucht, Lisaweta, nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit! [...]

 


der Fluch – the curse

fühlbar – tangible

rätselhaft – mysterious

der Abgrund – abyss

das Geständnis – confession

bewahren – to preserve, save

geschmeichelt – flattered

gering – humble, minor

begreifen – to comprehend

verführerisch – alluring

die Banalität – triteness

die Schwärmerei – enthusiasm

die Hingebung – devotion

verstohlene - stolen

klaffen – to gape