De profundis
von Georg Trakl (3. Februar 1887 - 3. November 1914)
Hintergrund:
Trakl hat die Überschrift zum vorliegenden Text sehr bewußt gewählt. »Herbstlied« und »Psalm« lauten in der ersten Niederschrift erwogene Titel. An ihre Stelle tritt mit De profundis der Verweis auf den 130. Psalm, der - getragen vom Vertrauen auf einen gnädigen und vergebenden Gott - mit den flehenden Versen anhebt - »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir - Herr, höre meine Stimme!«
Text:
De profundis
Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt.
Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht.
Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist.
Wie traurig dieser Abend.
Am Weiler vorbei
Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein.
Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung
Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.
Bei der Heimkehr
Fanden die Hirten den süßen Leib
Verwest im Dornenbusch.
Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern.
Gottes Schweigen
Trank ich aus dem Brunnen des Hains.
Auf meine Stirne tritt kaltes Metall
Spinnen suchen mein Herz.
Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.
Nachts fand ich mich auf einer Heide,
Starrend von Unrat und Staub der Sterne.
Im Haselgebüsch
Klangen wieder kristallne Engel.
[Erstdruck - Der Brenner 3 (1912/13) H. 6, 15. 12. 1912]
das Stoppelfeld - stubble field
der Zischelwind - hissing wind
die Waise - orphan
der Braeutigam - bridegroom
die Heimkehr - return home
verwest - decayed
das Schweigen - silence
der Hain - woodland
erloescht - to go out/ extinguish
die Heide - heath
das Haselgebuesch - hazel bushes